Shadowrun: Zwischen den Runs (02.07.2076)
Zwischen den Runs
Auburn, 02.07.2076
Hey Dirk!
Wild Bill hatte uns im äußersten Norden Everetts in einem Waldstück abgesetzt. Ich brachte die Heimfahrt so schnell es ging hinter mich, fuhr den Rest des Teams zum Cuppa Joe’s, wo sie ihre Untersätze geparkt hatten oder einen heben gehen wollten oder was weiß ich, und fuhr schnurstracks in die Werkstatt vom alten Nguyen.
Die Stadt hatte sich nicht verändert.
West Hill roch immer noch wie eine Mischung aus Räucherofen und Müllhalde, und der Smog hing immer noch über den Straßenschluchten und versperrte den Blick auf Mount Rainier und den Cascade Range.
Ich weiß nicht, ob du dich noch an Vince Nguyen erinnern kannst. Sein Laden liegt an der C St NW in der Nähe der 167, gegenüber der alten McHughes-Filliale, wo wir früher manchmal nach dem Pool ein paar Fritten geholt haben. Wie auch immer, Vince ist wohl vor ein paar Jahren gestorben, und seine Söhne, Tom und David, hatten für’s Schrauben ja noch nie was über. Jetzt haben sie mir die Halle vermietet und verkaufen in den Vorderräumen veraltete Elektronik und Computerzeug, das wahrscheinlich zum Großteil irgendwo vom Laster gefallen ist. Ich hoffe, sie werden nicht so bald meine Räume für ihren Trödelladen brauchen oder merken, dass die Ausrüstung ihres alten Herrns, die ich nun für mich alleine habe, deutlich mehr wert ist als der Ramsch, den sie zu verticken versuchen.
Es war noch früher Nachmittag, und ich hatte im T-Bird des alten Ork-Kojoten ein Nickerchen gemacht, obwohl ich zu gerne noch mal selber an die Kontrollen gelassen worden wäre. Aber ich musste mich zusammenreißen, Sierra 4 war übel zugerichtet, und ich wollte mich zuerst um ihn kümmern. Die Systeme liefen noch, und auch das Antriebsaggregat hatte noch 45 % nominelle Ausgangsleistung. Aber die Akkus waren nahezu vollständig zerlegt, das komplette primäre visuelle Sensorarray war zerschossen, die Kettenführung hing am seidenen Faden, und nur die Backupsysteme hielten sein Spatzenhirn im Hier und Jetzt. Also schnappte ich mir ‘nen Sixpack, bestellte eine Pizza und machte mich an die Arbeit.
Das Ganze hat mich fast eine Woche gekostet, aber letzten Endes habe ich es geschafft, alles zu reparieren. Und mit reparieren meine ich genau das – ich habe nicht einen Nuyen in Ersatzteile investiert, sondern den Dobermann bis zum letzten Kabel mit den Originalteilen wieder hin bekommen. Sicher, ich habe mir die Kettenarretierungspins gedruckt, die Kettenführung und die Sensorarraryhalterung geschweißt, drei Logikboards gelötet, einen neuen Systemkoaktuierungs-DRT gebrannt, eine neue Justierungsproliminierungplatine geätzt und fünf Meter Panzertape verbraucht, aber nun rollt er wieder!
Das war eine gute Übung, sowohl für die Finger als auch für’s Hirn.
Ich muss anfangen, mir in den Runs selber Gedanken zu machen und mich nicht auf das Team zu verlassen. Früher habe ich mit festen Zuständigkeiten, berechenbaren Entscheidungen und definierten Zielen gearbeitet. Aber die Runner, mit denen ich jetzt arbeite, sind leider unberechenbar.
Ich will dich nicht mit Details belasten, nur so viel: Galahad, einer der Muskeln, ist zwar OK, hat aber ‘n psychisches Problem, das ich noch nicht ganz verstanden habe, und Shear, der Magier, ist ein undurchschaubarer Egomane, der mit einer charmanten Fassade alle nach seiner Pfeife tanzen lassen will und keine Absprachen einhält. Immerhin ist da Phoenix, ein Söldner, der als Einziger auch in einem echten HTR-Team arbeiten könnte.
Damit ich mich nicht mit ihren Macken rumschlagen musste, hab ich die zu Anfang nur bei ihren Funkrufnamen genannt, aber das haben die schlicht und einfach nicht gecheckt. Wenn sie denn überhaupt verlässlich auf Funkanweisungen reagiert haben.
Naja. Du hast wahrscheinlich mit schlimmeren Mietlingen zu tun, wenn ich deine letzten Andeutung richtig interpretiere. Mein Team hat bis jetzt zumindest überlebt und die Runs erledigt, und bis auf Weiteres muss ich mit denen zusammenarbeiten und noch ein bisschen Kohle für Ma und Dad beschaffen.
Die beiden haben sich übrigens wirklich riesig gefreut, als du ihnen die letzte Miete und die Klimareparatur gezahlt hast! Aber leider ist Mas Pensionsfonds wohl schon vor fünf Jahren eingeschmolzen worden, um irgendwelche Investitionen zu finanzieren, und seitdem konnte sie nichts mehr beiseite legen. Sie und Dad haben mir nichts davon erzählt – dir? Wusstest du, dass die Kons sowas einfach machen können? Diese Schweine! Ich hätte gedacht, dass die zumindest irgendwas als Entschädigung bieten müssen.
Ich musste trotzdem meine ersten Paychecks erstmal in neue Ausstattung investieren. Ich habe mich immer darauf verlassen, nur im Notfall das Feuer eröffnen zu müssen, weil für die nicht-letale Zielkontrolle die Fleischeinheiten zuständig waren, aber in diesem Team muss ich mich um alles selber kümmern. In den letzten Wochen habe ich schon Gelmun für meine AKs beschafft und mir angewöhnt, meine Pred nur weich zu laden. Jetzt habe ich für Sierra 5 noch einen Taser beschafft und musste dafür erstmal die Systeme anpassen – mit ‘ner Waffenhalterung ist es ja nicht getan, ich brauchte auch noch einen SG-Adapter, die Autosoft für die Zielerfassung und eine gefälschte Lizenz, damit ich nicht irgendwann mal meine alten Kollegen über den Haufen schießen muss.
Überhaupt musste ich erstmal das Profil von Romeo 1 und Sierra 5 glätten.
Zugegebenermaßen hat Shear das angestoßen. Der Besserwisser hat mir schon ein paar Mal damit in den Ohren gelegen, dass die offen montierte AK an der Rotor-Drohne uns bei der nächsten Straßenkontrolle durch die Knights in den Knast bringen würde, und wahrscheinlich hat er Recht. Ich werde nicht ewig jeder Kontrolle rechtzeitig aus dem Weg gehen können, egal, wie gut ich die Muster kenne, und der gemeinsame Stallgeruch wird mich dann wahrscheinlich auch nicht retten.
Also habe ich ihn gebeten, mit mir zu Billy Low zu gehen und für mich die Verhandlungen zu führen, um den Taser mit all dem Zeug, eine versenkbare Waffenhalterung für Sierra 5 und eine getarnte für Romeo 1 zu besorgen.
Das fiel mir nicht leicht, aber echt, du solltest den Kerl reden hören und auftreten sehen, wenn er von jemandem was will. Das ist ein beeindruckendes Schauspiel, und Billy Low wusste glaube ich bis zum Schluss nicht, was gerade mit ihm passiert war. Eigentlich will Shear immer irgendwas von irgendwem, aber so richtig kann man das Schauspiel nur genießen, wenn man nicht in seinem Fadenkreuz steht.
Ich hab Billy vor dem Treffen nichts davon gesagt, dass ich jemanden mit bringe, sondern ihm nur ein ARO geschickt und mir die Koords für ‘n Treffen pingen lassen. Der hat erstmal schräg geguckt, als wir bei Emma’s Diner zu zweit auftauchten, aber du kennst ja Billy, seine Visage sieht seit dem Ding mit dem unterbezahlten Straßendoc eh manchmal etwas unausgeglichen aus. Er hat in den letzten Jahren auch noch mehr Gewicht verloren und besteht mittlerweile nur noch aus Haut und Knochen. Ich hab aber gehört, dass er jetzt einen Cyberkiefer hat und wieder richtig reinhauen kann. Einer von Toms Chummern hat ihn wohl vor ein paar Wochen im Big Rhino’s die Grillplatte vertilgen sehen!
Auf jeden Fall hat er seine AR-Fenster schnell geschlossen und sich ausnahmsweise mal auf das Gespräch konzentriert, als Shear ihm eine Worthülse nach der anderen um die Ohren gehauen hat. Das klang alles so freundlich und nachvollziehbar, dass Billy Low wohl nicht anders konnte, als mir die Sachen so schnell wie möglich zu besorgen. Schließlich wollte Shear ja so gerne, dass Billy mir half.
Drek, wahrscheinlich hat er mir nur geholfen, weil das auch irgendeine Manipulationsmasche von ihm ist, aber das ist mir jetzt auch egal. Ich könnte mir vorstellen, dass Billy beim nächsten Mal regelrecht enttäuscht wäre, wenn ich ohne Shear zu ihm käme.
Für Sierra 4 habe ich noch ein bisschen was improvisiert und eine Kamera- und Mikrofonattrappe aus Schrott gebastelt und um die AK herum drapiert. Sieht richtig schick aus! Zwar kann ich mir wenig Gründe vorstellen, so ‘ne Medientechnik tatsächlich auf eine Kettendrohne zu bauen (und nicht einfach eine Horizon Flying Eye zu nehmen), aber es sollte auf den ersten Blick harmloser aussehen als ein verdrahtetes Sturmgewehr.
Ansonsten bin ich jetzt im Bloody-Tusk-Dojo am Bahnhof hier in Auburn Mitglied und trainiere Nahkampf. Wie gesagt, in meinem neuen Team muss ich mich um alles selber kümmern und auf alles vorbereitet sein.
Ich frag mich, was die anderen jetzt mit ihrer Kohle anfangen. Shear ist wohl bei Galahad eingezogen, obwohl der, soweit ich weiß, auch nur in einem Pennerasyl der Kirche lebt. Komische Sache. Weiß nicht, ob das der Beginn einer unheiligen Chummeraderie ist, die mir in Zukunft Probleme machen wird, aber komisch ist das zumindest.
An deren Stelle hätte ich mir als Erstes mal ‘ne neue Bleibe gesucht, wenn ich mit tausenden von Nuyen lebend von ‘nem Run zurück gekommen bin. Bin gespannt, ob ich demnächst wieder von denen oder von Phoenix höre.
Bis dahin werde ich mich noch ein bisschen mit Matrixarbeit beschäftigen. Wenn ich die Kohle über habe, werde ich mir womöglich sogar ein Deck gönnen. Allerdings fühle ich mich verdammt nackt, wenn ich ohne Untersatz in der Matrix bin. Vielleicht ändert sich das, wenn ich über ein Deck rein gehe, dass mich besser schützt, als meine Konsole das kann. Aber im Moment muss ich da wohl erstmal durch.
Mir kommt es so vor, als wäre zu decken weniger immersiv als zu riggen. Wenn ich rigge, bin ich das Fahrzeug. Ich rieche, wenn ein Verfolger sich an mich hängt, ich spüre Hunger, wenn die Akkus leer sind, und mein Herz rast, wenn ich die Beschleunigung maximal auskoste. Beim Decken bin ich einfach nur ich selbst, alleine und verloren im Grid.
Damit das nicht so auffällt, habe ich mir als Persona eine Adaption von Prowl (ja, richtig, dem Polizeiauto-Autobot aus der klassischen Transformers Tridserie von früher) gemacht. Damit fühlt sich die Matrix schon ein kleines bisschen sicherer an. Auch, wenn du immer auf Seiten der Decepticons gestanden hast musst du zugeben, dass das ziemlich cool ist.
Ich werde dir weiter berichten, was sich hier so tut. Schreib mal zurück und melde dich, wenn du in der Stadt bist!
Dein Bruder Chester.