Shadowrun: Royally Connected (06.08.2076)

Royally Connected

Auburn, Seattle, 06.08.2076, 23:07 Uhr

Der Servomotor für die Y-Kompensation lief nicht synchron mit der Messaktualisierungsfrequenz der Beschleunigungssensoren. Sierra 4 war mit einer AK97 ausgestattet, die über ein nachträglich angebautes Smartgun-System mit der Steuerungselektronik der robusten Bodendrohne verbunden war. Ich rief ein Fenster mit dem Code der Zielerfassungsroutine des Sturmgewehrs auf und öffnete ein weiteres, in dem ich eine Simulation der Ergebniswerte in Echtzeit laufen ließ. Eine falsche Buslatenz konnte zu einem Synchronisierungsproblem führen, also sah ich mir das mal näher an.

Bah. Auf den ersten Blick erkannte ich, dass es nicht daran lag. Einer der Servos war falsch justiert. Nachdem ich die passenden Schaltdiagramme und Konstruktionszeichnungen eingeblendet hatte, nahm ich einen Schraubendreher und ein Prüfgerät von der Werkbank und machte mich seufzend an die Arbeit.

Am äußeren Rand meines Blickfeldes erinnerte mich eine Textnachricht von Galahad daran, dass ich heute Abend noch etwas Anderes vor hatte. Der Elf hatte mich und die anderen Mitglieder unseres Teams zu einem Konzert in einen Pub nach Downtown eingeladen. Das AR-Fenster zeigte die Adresse in der Pioneer Street in Downtown und eine Umgebungskarte zusammen mit der von GridGuide vorgeschlagene Route, und wenn ich nicht sehr viel zu spät kommen wollte, musste ich mich in den nächsten zwanzig Minuten auf den Weg machen.

Nachdem die Y-Servos wieder justiert waren, blendete ich alle AR-Fenster aus und schraubte die Verkleidung wieder an der Waffenhalterung fest. Dann legte ich das Werkzeug zurück an seinen Platz über der Werkbank. Sierra 4 war wieder einsatzbereit! Zufrieden lächelte ich und gab ihm über meine Konsole den Befehl, vor die Hecktür von Romeo 1 zu fahren und sich zur Drohnenhalterung im Laderaum des Lieferwagens auszurichten. Ich klappte von Hand die Ladeschienen aus und gab der Drohne den Befehl zum Anfahren an die Halterung. Mit leisem Rasseln schabten die Ketten des GM-Nissan Dobermann über den blanken Betonboden meiner Werkstatt und klapperten dann metallisch auf der schmalen Rampe, bis ein sattes Klicken anzeigte, dass die Halterung eingerastet war.

Ich schloss die Heckklappen des Lieferwagens und machte mich auf dem Weg zu Galahad.

Downtown, Seattle, 06.08.2076, 23:55 Uhr

Romeo 1 wartete in einem bewachten CityPark-Parkhaus an der Columbia Street auf meine Rückkehr, und ich machte mich entlang der 1st Avenue zu Fuss auf den Weg zum Pub. Pioneer Square war voll und laut. Die engen Straßen wurden von verschnörkelten, trutzigen Bauten aus einem vorigen Jahrhundert bedrängt, die mit hohem Aufwand vor dem Verfall geschützt wurden. Die alten Gebäude standen zwischen glitzernden, hoch aufragenden modernen Wolkenkratzern, und AROs des Fremdenverkehrsamts von Seattle versuchten, Touristen und Einheimische für ihre Geschichte zu begeistern. Gleichzeitig schob sich ein steter Fluss von Autos, Lieferwagen und Motorrädern durch die viel zu schmalen Straßen. Altmodische Neonlichter beleuchteten die Fassaden, und allgegenwärtige Werbe-AROs wetteiferten mit der AR-Dekoration der Restaurants und Geschäfte um Aufmerksamkeit.

Die 4-spurige Straße wurde von einer Baumreihe in der Mitte unterteilt. Niedrige Zäune und jede Menge virtueller Markierungen sollten diese Relikte der Natur vor Vandalismus und Diebstahl schützen, aber soweit ich wusste, gelang das nur teilweise. Vielleicht waren auch die Luftverschmutzung und der saure Regen Schuld. Auf jeden Fall wurden in regelmäßigen Abständen etliche zehntausende Nuyen an Steuergeldern in neue Ahornbäume gesteckt.

Die meisten Fußgänger, die in kleinen, betrunkenen Gruppen unterwegs waren, trugen Atemschutzmasken und schrille Kostüme, und einige wurden von schwebenden Videodrohnen begleitet, die ununterbrochen filmten und die Clips ohne Zeitverzug in der Matrix online stellten. Einige Menschen und Elfen verzichteten scheinbar unbedarft auf einen Luftfilter, doch sie sahen alle reich und gut gelaunt aus, deswegen war ich mir ziemlich sicher, dass diese Bastarde das Geld, dass sie den Armen aus den Taschen gezogen hatten, in hochwertige implantierte Atemluft- und Toxinfilter investiert hatten. Irgendwann würde ich mir auch diese lästigen Masken und Filter sparen können und mir so etwas leisten, aber als jemand vom Fußvolk trug auch ich selbstverständlich nur einen banalen LifeGuard-Basic-Maskenfilter von Evo Corporation.

Roy’s Tavern befand sich im Keller eines großen alten Backsteinhauses in der Nähe des Pioneer Square. Das Tourismusbüro-ARO ließ mich wissen, dass das Gebäude zusammen mit einem mittlerweile abgerissenen „Hotel Seattle“ im Jahr 1890 gebaut worden war und dieses nun schon um fast hundert Jahre überlebt hatte. In den Jahren seitdem war es als Café, Bürogebäude, Frisör und Hardwareshop genutzt worden. Seit 2061 beherbergte es einen Irish Pub, als dessen Eigentümerin das Informations-ARO der Tourismusbehörde eine Joanna McCarthy angab. Das Programm des Abends sei eine Band namens 4 Leafs, die „zeitgemäß unterstützte klassische irische Tanzmusik aus dem vorigen Jahrhundert“ spielten. Na dann mal los.

Ich betrat die Kneipe und befand mich in einem übersichtlichen Raum, der Platz für etwa 40 Gäste bot und an dessen hinterer Wand eine kleine Bühne stand. Die Einrichtung war klassisch rustikal, antike Blechschilder an den Wänden warben für Biere, die man längst nicht mehr kaufen konnte, und die dunkel angelaufene Holzvertäfelung verlieh dem Pub eine Aura der Beständigkeit. Auf der Bühne war ein einsamer Roadie damit beschäftigt, die Instrumente zu stimmen, und aus der Anlage kam eine fröhlich klingende Flöten- und Geigenmelodie. Galahad winkte mir von vor der Bühne zu, und ich ging zu ihm.

Wir bestellten uns erstmal zwei Bier. Galahad bestand darauf, dass ich ein Guinness probieren musste, ein schwarzes, kräftig nach Lagerfeuer schmeckendes Zeug. Während wir tranken, versuchte der Elf mit der Zwergenfrau, die an der Bar arbeitete, ins Gespräch zu kommen. Es schien sich um die Besitzerin zu handeln.

Während wir unser Bier tranken, fragte Galahad sie, ob es im Roy‘s Tavern Showkämpfe gab. Er wollte bei ihr auftreten. Aber die Zwergin schien kein Interesse an solchen Veranstaltungen zu haben. Immerhin versprach sie halbherzig, sich bei ihren Kontakten in Downtown umzuhören.

»Wo sind denn die Anderen?«, erkundigte ich mich.

»Weiß nich‘, du bist bis jetzt der Einzige!«, rief mir der Elf über den Klang der Musik zu.

»Dabei sind die echt gut«, fuhr er fort, und zeigte mit dem Daumen über seine Schulter auf die leere Bühne.

Ich zog fragend die Augenbrauen hoch.

»Pause. Die kommen gleich wieder. Sind Freunde von mir, die spielen den ganzen Abend“«

In der AR schwebten (wahrscheinlich irische) Kobolde und Feen um die Bühne herum und tanzten zu der Musik aus den Lautsprechern. Über ein Info-ARO hörte ich eine Weile Ausschnitte aus dem letzten Album der Band an.

»Ich mag die, weil bei denen auch viel in der echten Welt passiert!«, erklärte mir Galahad.

Joanna war nicht seiner Meinung. »Du verpasst die Hälfte, wenn du nicht die AR-Instrumente hörst!«

Aber für Galahad reichte die andere Hälfte wohl schon aus.

Nach einiger Zeit kam die Band wieder auf die Bühne, und wir hörten entspannt zu. Von Phoenix oder Shear gab es weiterhin keine Spur.

Als der Abend zu Ende ging, kam die Band zu uns, und tatsächlich hatte ich den Eindruck, dass sie Galahad gut kannten. Wir tranken mit ihnen bis spät in den Abend.

Als wir alle einigermaßen angetrunken waren, unterbrach ein Text-ARO unser Feiern.

Ein Unbekannter brauchte ein Team von Shadowrunnern. Und wie schon beim letzten Run sollte es eilig sein. Der Interessent bat um unmittelbare Rückmeldung; die Absenderposition konnte ich schnell einer öffentlichen Bibliothek zuordnen, die nicht weit entfernt lag. Der Konzertabend war nach dem Ende der Musik zu mehreren ausgedünnten Trinkrunden zerlaufen, so dass Galahad einverstanden war, den potentiellen Auftraggeber zu treffen.

Nachdem ich mich mit dem Absender der Anfrage kurz ausgetauscht hatte, bot er an, uns mit einer Limousine abzuholen. Wenige Minuten später fuhr ein schwarzer Mitsubishi Nightsky mit Seattler Nummernschild vor dem Pub vor. Wir setzten uns zu einem asiatisch aussehenden Zwerg, der sich mit französischem Akzent als Thomas vorstellte.

Während das führerlose Auto sich sanft und lautlos in Bewegung setzte, beauftragte ich Sierra 2, uns in sicherem Abstand zu folgen. Ich checkte kurz ihre Sensorfeeds nach möglichen Verfolgern, konnte aber niemanden entdecken.

»Bitte, nehmen Sie sich etwas zu trinken, wenn Sie möchten!«, lud uns Thomas ein.

Ich suchte mir eine große Flasche Bier aus der Minibar und hörte ihm zu.

Es ging um eine Datenextraktion.

Wir sollten ein Stück Software beschaffen, das sich in einem nicht allgemein zugänglichen Renraku-Host befand.

Es handelte sich um eine fortgeschrittene Autosoft von NeoNet, die deren Tochterunternehmen FTL entwickelte hatte. Der Projektname der Software lautete Rogue Forward V. Die Software war eine adaptive Zielerfassung, die unabhängig von der Waffengattung universell einsetzbar sein sollte. Ein Hacker namens Jevingovic Lushkov, der der Gruppierung „Reality Deckers“ angehörte, hatte das Programm geklaut und drei Stunden zuvor angekündigt, es verkaufen zu wollen. Er sei mittlerweile ums Leben gekommen, aber soweit unser Auftraggeber wusste, hatte er vorher noch das Programm in einem Pleasure-Host von Renraku namens „Royal“ ablegen können. Dort verbarg sich der Programmcode als Icon einer grauen oder schwarzen Katze.

An das Programm würden wir über ein Renraku Sensei Kommlink kommen, in das die Zugangsdaten für den versteckten Renraku-Host einprogrammiert seien. Ein gewisser Robert Suse Hoffmann hat das Gerät unserem Auftraggeber bereits verkauft und wartete darauf, dass jemand vorbei kam, um es abzuholen. Laut Thomas gab es einen gültigen Kaufvertrag, den er uns auch zeigte, so dass wir eigentlich nur hinfahren und es abholen müssten. Dafür würden wir allerdings über die Grenze in die Native American Nations fahren und in Fairfax, 3 Meilen von der Staatsgrenze entfernt, den Verkäufer in einem Wohnmobil treffen müssen, von wo aus dieser seinen Elektronikhandel betrieb.

Als Aufwandsentschädigung bot der Zwerg jedem 7000 ¥ an und einen Bonus von 2000 ¥, falls wir vor dem 08.08.2076 um 0 Uhr erfolgreich sein sollten. Damit wir auf jeden Fall Erfolg haben würden, sollten wir außerdem ein leicht modifiziertes Erika MCD-1 Cyberdeck geliehen bekommen und eine passende Talentsoft für Hacking (Stufe 2).

Ich schnaubte leise und trank mein Bier leer.

Ich war kein Decker, und ein Run in einen nicht-öffentlichen Renraku-Host war etwas, das für mein Laienwissen viel zu hoch gegriffen war. Daran würde auch die Talentsoft nichts ändern, die uns Thomas anbot. Davon, dass ich gar keine Talentleitungen hatte, mal ganz abgesehen.

Die Sache war trotzdem interessant – ein Cyberdeck würde ich mir so bald nicht leisten können, und wenn wir den Auftrag annahmen, kriegte ich sogar eines gestellt. Zugegeben, eins aus der untersten Schublade, aber immerhin.

Ich setzte meine Bierdose wieder an und versuchte, mit einem letzten Schluck etwas Zeit zu gewinnen, aber verdammt, ich hatte sie ja eben schon ausgetrunken. Unentschlossen schielte ich über den Rand der Büchse zu Galahad hinüber. Wie reagierte er? War er für den Auftrag zu haben?

Wie es aussah, wollte er am liebsten sofort loslegen.

»Wenn ich das Deck behalten kann, sind wir im Geschäft!«, versuchte ich es mit ein bisschen Verhandlungsführung.

Tatsächlich, nach ein bisschen Hin-und-Her war unser Auftraggeber einverstanden – ich würde das Erika MCD-1 bekommen und behalten dürfen, das er aus einem Fach unter seinem Sitz hervor holte. Das Deck war deutlich kleiner als meine Riggerkonsole und schon ziemlich angestoßen. Aber es würde mir den Weg in die Matrix frei machen!

Damit Galahad bei dem Run mitmachte, bot ich ihm 20000 ¥ aus eigener Tasche an – alles, was ich besaß, aber im Vergleich zum Wert des Decks mehr als angemessen.

Wir kamen mit Thomas ins Geschäft, und er setzte uns am Parkhaus in der Columbia Street ab.

Durch Nachforschungen in der Matrix versuchten wir, so viel wie möglich über den Dieb, die gestohlene Software und den Zielort heraus zu finden. Allerdings stellte sich heraus, dass in den öffentlichen Datenbanken dazu so gut wie nichts zu finden war. Galahad versuchte noch, einen Deckerkontakt von sich auf Jevingovic Lushkov anzusetzen, aber selbst für so eine simple Auskunft verlangte der mehrere Tausend Nuyen, so dass Galahad dankend ablehnte.

07.08.2076

Früh am nächsten Morgen um vier Uhr gaben wir es endlich auf. Wenn wir noch am selben Tag über die Grenze nach Fairfax fahren und das gesuchte Kommlink holen wollten, würden wir ein paar Stunden Schlaf gebrauchen können.

Wir beschlossen, mit Romeo 1 über den offiziellen Grenzübergang zum Zielort zu gelangen. Ich entschied mich, meine SIN Liu Branderson dafür zu nutzen und alle Fahrzeugwaffen und die Angriffsdrohnen vor der Abfahrt am nächsten Morgen auszubauen beziehungsweise zu Hause zu lassen.

Noch während ich Romeo 1 auf den Heimweg schickte, meldete sich dann überraschend Phoenix bei uns. Er würde bei dem Run dabei sein! Das waren gute Neuigkeiten, Phoenix‘ Feuerkraft konnte manchmal nützlich sein.

Ich holte nach ein paar Stunden Schlaf und einer halben Stunde Schrauberei am Wagen erst den Söldner und dann Galahad zu Hause ab. Phoenix lehnte jegliche Gewinnbeteiligung ab. Nur Spesen würde er mir berechnen, und wenn er nach dem Auftrag nicht gerade einen neuen Arm brauchte, schien das für mich ein guter Deal zu sein.

Während wir alle noch ein bisschen dösten, brachte uns GridGuide sicher zum Grenzübergang. Dort hielt ich mich bereit, beim geringsten Anzeichen von Ärger auf manuelle Fahrt zu gehen und das Weite zu suchen, aber es kam nicht dazu. Alles lief glatt. Noari Security schien mittlerweile für die Grenzkontrollen zuständig zu sein, was mich verwundert die Stirn runzeln ließ. Andererseits war die Landessicherheit bei Knigth Errant eine ausgegliederte Abteilung gewesen, so dass ich von Vertragsänderungen auch während meiner aktiven Zeit erst spät etwas gemerkt hätte.

Nach ein paar Minuten erreichten wir die Abfahrt zum Elektrohandel von Robert Suse Hoffmann. Ein riesiges ARO half uns dabei, die schäbige Abfahrt nicht zu verpassen. Doch irgendetwas stimmte nicht. Schon aus einer halben Meile Entfernung sahen wir Rauch über dem Gelände aufsteigen.

Zum Glück hatte ich wenigstens Sierra 2 und 3 dabei, so dass ich eine der beiden auf einen Erkundungsflug schickte.

Mist! Der Trailer, in dem wir Hoffmann treffen wollten, lag in Trümmern und war nur noch eine verkohlte Ruine. Außerdem entdeckte ich eine als Vogel getarne Überwachungsdrohne, die die Gegend bewachte.

Ohne weitere Aufklärung wendete ich Romeo 1 und sah zu, dass wir wieder auf den Highway kamen. Ein schneller Blick auf die Kartendaten von GridGuide zeigte mir, dass es keine Möglichkeit gab, auf öffentlich zugänglichen Straßen von hinten an das Zielgebiet heran zu kommen. Also stoppten wir 7 Meilen entfernt an einer Automatenraststätte, nahmen unsere gesamte Ausrüstung offline, und gingen zu Fuss über Feldwege in Richtung unseres Einsatzortes.

Der Marsch durch die Wälder und Wiesen erinnerte mich an meine jährliche Bergwanderung mit Dad und Dirk, und obwohl ich nach einiger Zeit ganz schön ins Schwitzen kam, war es befreiend, endlich mal wieder Vögel zu hören, unberührte Natur zu erleben und den Geruch von Tannen und Wildkräutern in der Nase zu haben. Wenn das alles vorbei war, würde ich mir eine Auszeit in den Bergen gönnen, um mal wieder einen klaren Kopf zu kriegen.

Meine friedlichen Gedanken wurden jäh unterbrochen, als Galahad auf Spuren von sehr großen Spinnen stieß. Ich konnte mich vage erinnern, dass es in den Wäldern östlich von Seattle Populationen von Necrophilia gigantus geben sollte, aber außer dem klangvollen Namen fiel mir leider nichts Nützliches dazu ein. Wir beschlossen, aufmerksam zu sein und einen großen Bogen um die Nester und Netze der Spinnen zu machen.

Galahad führte uns weg vom Weg und von den Spinnen. In Gedanken malte ich mir aus, wie sie wohl aussahen, und nahm wir vor, eine Matrixsuche nach diesen Viechern zu starten, sobald wir wieder in der Zivilisation waren. Die Ungewissheit erschuff auf jeden Fall ein paar ziemlich alptraumhafte Kreaturen vor meinem inneren Auge!

Leider lenkte uns die Suche nach den Spinnen so sehr ab, dass Galahad kurz darauf in einen als Falle gespannten Monodraht lief. Er verletzte sich zum Glück nicht schwer, doch das sollte uns allen eine Lehre sein, besser auf unsere Umgebung zu achten.

Allerdings vergaßen wir diese Lehre allzu schnell wieder, und Galahad würde dafür später den Preis zu zahlen haben, aber dazu komme ich noch.

Nach dem Erlebnis mit dem Monodraht zumindest schlichen wir aufmerksam näher an den Einsatzort. Als wir bis auf eine viertel Meile heran waren, endete der Wald, und vor uns lag eine knapp eine halbe Meile durchmessende Lichtung, die von einem Zaun umgeben war und an ihrem Nordrand ins Gebirge überging. Am Übergang der Lichtung ins Gebirge befanden sich die verkohlten Überreste von Hoffmanns Wohnwagen. Die Überwachungsdrohne drehte immer noch außerhalb unserer Waffenreichweite ihre Runden, und wir wollten auf keinen Fall riskieren, von wem auch immer entdeckt zu werden.

Phoenix war sich ziemlich sicher, dass der Wohnwagen von mehreren Raketen oder durch schweres Artilleriefeuer zerstört worden war, und er ging davon aus, dass Renraku dahinter steckte, weil das Angriffsmuster auch aus der Ferne durch die Geschütze der Arkologie durchgeführt hätte werden können.

Wer auch immer den Angriff veranlasst hatte, er schien Robert Suse Hoffmann nicht vollständig ausgeschaltet zu haben; Phoenix konnte blutige Spuren entdecken, die nach Norden in Richtung des Gebirges zogen.

Da die Vogeldrohne immer noch die Lichtung bewachte, umrundeten wir diese mühsam durch Gebüsch und Unterholz. Wir verloren dadurch fast zwei Stunden, und unsere Bemühungen wurden davon gekrönt, dass Galahad erneut in einen Monodraht geriet. Verdammt, die ganze Lichtung war so abgesichert – dieser Hoffmann schien ein vorsichtiger Mensch zu sein! Es erwischte Galahad schwererer als zuvor, und Phoenix konnte ihn erst dann angemessen mit seinem Medkit versorgen, als wir das Risiko auf uns nahmen, kurz online zu gehen, um die Assist-Software die Behandlung übernehmen zu lassen.

Als wir anschließend weiter marschierten, stießen wir nach kurzer Zeit auf die Spuren eines Kampfes. Galahad und Phoenix konnten aus den paar platt gedrückten Grashalmen und Blutspritzern tatsächlich erkennen, dass dort ein Rudel von einem halben Dutzend oder mehr großer Hunde einen Mann angefallen, getötet und weggeschleift hatten. Die Dunkelheit setzte ein, und wir beschlossen, eine Rast einzulegen. In ausreichendem Abstand von der Lichtung konnten wir endlich unsere Systeme wieder online schalten, ohne in Gefahr zu geraten, dadurch entdeckt zu werden. Wir fanden einen kleinen Bach, an dem wir unseren Durst löschen konnten, und folgten dann der Spur.

Diese führte zu einigen Ruinen, die in den Berghang eingelassen waren, und dort zu einem Keller, in dem es nach Hund roch. Ich schickte Sierra 3 zur Aufklärung hinein, und wir entdeckten eine Hündin und mehrere kleine Welpen, die dort friedlich schliefen. In einer Ecke, nicht weit von den Hunden entfernt, lagen die Überreste eines Mannes, und zwischen seiner Kleidung lag auch ein Kommlink – vermutlich unser Missionsziel!

Wir sprachen uns kurz ab, und Galahad rannte in unglaublicher Geschwindigkeit in den Keller, holte sich das Gerät und war schon wieder auf dem Rückweg, als die Hündin ihn bemerkte und ungezielt nach ihm schnappte. Sie verfehlte ihn, aber wie es schien, wollte Phoenix kein Risiko eingehen und eröffnete das Feuer. Das Tier hatte keine Chance, wurde von mehreren Kugeln getroffen und stürzte jaulend zu Boden.

Als Galahad wenige Sekunden später wieder vor der Höhle erschien, das Kommlink sicher in den Händen, schäumte er vor Wut.

»Was sollte denn der Scheiß?«, fuhr er den Söldner an.

Phoenix verstand Galahads Wut nicht und zuckte nach einer kurzen ratlosen Pause mit den Schultern.

»Ich hab doch gesagt, dass ich schieße, wenn das Vieh dich angreift«, grummelte er.

Für ihn schien die Angelegenheit damit erledigt zu sein, aber Galahad grollte noch immer.

Da wir in der Ferne die anderen Hunde heulen hörten und nicht mehr viel Zeit blieb, ehe unsere Frist verstrich, beschlossen wir, direkt von hier aus den Auftrag zu Ende zu führen und in den Renraku-Host einzusteigen.

Als Phoenix wenig später kurz entschlossen die Welpen erledigte, war Galahad anzusehen, dass nur noch ein winziger Funken fehlte, ehe er dem Söldner an die Gurgel springen würde. Ich fand die Gewalt auch überflüssig, aber es waren halt nur Hunde.

Wahrscheinlich ging es Galahad eher darum, dass Phoenix ihm bei seiner Aktion dazwischen gefunkt hat. Oder war er besorgt, dass der Söldner ihn durch sein Feuer in den engen, dunklen Gang hätte treffen können? Ich war mir ziemlich sicher, dass Phoenix ein ausgezeichneter Schütze war, aber dafür, dass er wirklich ein freies Schussfeld gehabt hatte, hätte ich meine Hand nicht ins Feuer gelegt. Bei einem Knights-Einsatz hätte ihm der Einsatzleiter wohl einen ordentlichen Einlauf verpasst, weil er eigene Einheiten gefährdet hatte. Das Risiko für Galahad durch eine fehlgeleitete Kugel war sicherlich höher, als die Bedrohung durch einen Hund, der ihm nur noch hinterher bellen konnte. Andererseits hätte ein halbwegs risikobewusster Einsatzleiter den Hund schon vor dem Zugriff ausschalten lassen – zumindest, wenn der Einsatz nicht im öffentlichen Raum stattgefunden hätte.

Aber wir waren eben kein Knight-Errant-HTR-Team, sondern ein Haufen sturer Individualisten. So, wie wir bisher agiert haben, hätte uns kein Vorgesetzter weiter zusammen arbeiten lassen, und das wurmte mich. Verdammt! Warum verlief das immer so unkoordiniert? Hatten wir keine Führungspersönlichkeit im Team oder einfach zu viele?

Zum Glück eskalierte die Situation nicht noch weiter. Galahad und Phoenix einigten sich darauf, den Zugang zum Keller abzusichern, während ich mich alleine in den Renraku Vergnügungshost einloggte. Ich verband das Kommlink mit meinem neuen Deck, und unmittelbar, nachdem sich die Matrix um mich herum aufgebaut hatte, startete ich den Softlink, wegen dessen wir hierher gekommen waren.

Überrascht merkte ich, wie mein Deck in den heißen Sim-Modus wechselte, und fand mich in einer Reihe von schick gekleideten Personen wieder, die vor einem Nachtklub auf Einlass warteten. Ich trug einen eleganten Smoking und hatte, im Gegensatz zu sonst in der Matrix, nicht meine Transformers-Persona, sondern sah aus wie mein Fleischkörper. Die Qualität der Simsense-Daten war beeindruckend! Ich fühlte sogar den weichen Stoff des Seidenhemds auf meiner Haut und roch in der milden Nachtluft das Parfüm der Frau in der Reihe vor mir. Gedämpfte Bässe drangen durch die Eingangstür nach draußen, neben der ein Türsteher die Gäste kontrollierte. Ich versuchte vergeblich, mir duch schnelles Hacken ungesehen Einlass zu verschaffen, und musste mich schließlich mit meiner SIN ausweisen, die aber überraschenderweise durch den Zugang über Hoffmanns Kommlink mit der passenden Marke ausgestatten war.

Im Inneren des Hosts war eine gediegene Cocktailparty im Gange. Ich sah mich kurz um, konnte aber zunächst keine Spur der gesuchten Software entdecken. Dafür sprach mich die Persona einer Elfe an. Ich gab mich als Renraku-Mitarbeiter aus, der auf einem Außeneinsatz in den Native American Nations vom Hotelzimmer aus eingeloggt war, und sie stellte mich ihren Begleitern vor. Valeria, Markus Halbush und Kirsten arbeiteten alle bei Renraku und gingen in den Royal Host, um Kontakte zu knüpfen und sich von der Arbeit zu erholen. Nach einem kurzen Austausch von Kontaktdaten verabschiedete ich mich und suchte weiter nach dem Icon der geklauten Autosoft, das hier irgendwo im Host versteckt sein musste.

Ich fand eine unauffällige, verschlossene Tür neben der Bar, durch die Systemicons ein- und ausgingen. Ich schlich mich hinter dem Icon eines Kellners hinein und fand mich hinter den Kulissen wieder. Die aufwändige Ausgestaltung des Royal Hosts war verschwunden, und ich sah nur noch endlos erscheinende Reihen von zweckmäßigen Regalen, in denen Dateien als Icons abgelegt waren. Leider bemerkte das Kellner-Icon mein Eindringen und griff mich an. Ohne passende Angriffssoftware konnte ich ihm nichts entgegensetzen, aber noch während er mein Deck mit Schadcode bombardierte gelang es mir, das Panther-Icon der gesuchten Autosoft zu entdecken und herunter zu laden.

Als ich einige Sekunden später verwirrt in der realen Welt erwachte, schmeckte ich Blut und hatte unglaubliche Kopfschmerzen. Ich lehnte am kalten, feuchten Stein des Kellers in den Wäldern, und Galahad und Phoenix knieten neben mir. Fragend und skeptisch musterten sie mich (oder das Blut, das mir noch immer aus der Nase lief). Mühsam wischte ich es mit dem Handrücken ab und zog das Kabel aus dem Deck. Mit einem leisen Surren rollte es sich in meine Datenbuchse zurück. Ich bemühte mich, so etwas wie ein triumphierendes Lächeln aufzusetzen und nuschelte ein sparsames »Habs!«.

Galahad klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. Phoenix packten mich unter den Armen und zog mich hoch, während er mir kurz berichtete, dass die Hunde nicht näher gekommen waren.

Ich rief unseren Johnson an. Thomas wollte sich unmittelbar hinter der Grenze sobald wie möglich in Seattle mit uns für die Übergabe treffen. Wir stimmten zu und machten uns auf den Weg zu Romeo 1.

Als wir einige Stunden später die Grenze überquerten, fiel mir das erhöhte Sicherheitsniveau auf. Entweder hatte unser Ausflug in die Stammesländer mittlerweile jemanden aufgescheucht, oder es war einfach ein dummer Zufall. Ich war ziemlich zerschlagen und kaputt und froh, dass nichts passierte, während wir langsam durch die Kontrollen rollten.

Doch ein paar Minuten später war es mit meiner Erleichterung vorbei: Bei unserer Ankunft am Treffpunkt auf einer abgelegen Straße in der Wildnis war der schwarze Mitsubishi Nightsky von Mr. Johnson nur noch ein rauchendes Wrack, und ein Anruf bei Thomas führte nur direkt zu seinem digitalen Assistenten.

Scheiße.

Scheiße!

Verdammt.

Egal, ob Thomas noch lebte, er war auf jeden Fall zu heiß, um sich mit ihm jetzt zu treffen.

Ich sprang direkt in die Kontrollen von Romeo 1, wendete aus voller Fahrt, und lenkte den Van in einer weiten Kurve von der Straße herunter und davon.